Der Aufstand vor dem Aufstand: Frauen in der EZLN

 

Am 1. Januar 2004 wird der zapatistische Aufstand 10-jährig. Der zapatistische „Frauenaufstand“ ist älter! Bereits im Frühjahr 1993 wurden auf Druck der Frauen hin innerhalb der EZLN die revolutionären Frauengesetze angenommen. Wie kam es soweit?

 

Es ist nicht schwer, unzählige Beispiele aufzuzählen, die die benachteiligte Stellung der Frauen innerhalb der patriarchal strukturierten indigenen Gemeinden aufzeigen. Hier nur einige davon: Frauen erben kein Land. Sie werden heute noch oftmals sehr jung zwangsverheiratet. In der Familienplanung haben Frauen selten ein Mitspracherecht und nach wie vor gilt eine grosse Anzahl Kinder – vor allem Söhne - als Garantie für eine gesicherte Altersvorsorge. In der Gemeindepolitik sind Frauen untervertreten oder werden ganz ausgeschlossen. Der Arbeitsalltag der Frauen beinhaltet normalerweise bis zu 16 Stunden. Noch in der Nacht steht sie auf, um Tortillas für das Frühstück zuzubereiten. Sie isst erst, wenn die ganze Familie versorgt ist. Sie beaufsichtigt die Kinder, wäscht, putzt, kocht, besorgt Wasser und Holz, das sie aus immer entlegeneren Waldstücken holt . Oft hilft sie ihrem Mann zusätzlich während der Erntezeit auf dem Feld. Zudem haben die Frauen im Gegensatz zum Mann keinen freien Wochentag. In den indigenen Gemeinden ist die Infrastruktur des Gesundheitswesens praktisch inexistent. Die Frauen tragen für die Gesundheit der ganzen Familie die Verantwortung. Um ihre eigene Gesundheit zu pflegen bleibt wenig Zeit und meistens fehlen die finanziellen Mittel dazu. Viele Frauen sind einsprachig; sie beherrschen das Spanisch nur schlecht oder gar nicht. Viele Mädchen verlassen bereits nach wenigen Schuljahren den Unterricht da sie im Gegensatz zu den Jungen von klein auf „Erwachsenenarbeit“ übernehmen. Sie haben in diesem Sinne keine Kindheit. Über das Geld - inklusive Einkommen der Frau, das sie aus dem Verkauf von Kunsthandwerk oder aus Lohnarbeit erwirbt – bestimmt der Mann. Der häufige Alkoholkonsum der Männer frisst in vielen Fällen nicht nur die ohnehin knappen Ressourcen auf; er ist auch Auslöser für physische, psychische und sexuelle Gewalt gegen die Frauen. Frauen sind nicht nur innerhäuslicher Gewalt ausgesetzt: seit dem Krieg kommen auch unzählige Übergriffe von Seiten der Soldaten oder Paramilitärs dazu. Die Liste wäre noch langeweiterzuführen.

 

Jedoch sollen hier in einem geschichtlichen Rückblick über die Organisierung der indigenen Frauen einmal andere Aspekte der weiblichen Lebensrealität beleuchtet werden: Ereignisse, die den „typischen“ chiapanekisch-indigenen Frauenalltag beeinflusst und verändert haben. Es taten sich im Rahmen der zapatistischen Organisierung Räume auf, die Frauen die Möglichkeit gaben ihre eigene Wahrnehmung der Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu reflektieren und zu artikulieren. Ein langwieriger Prozess setzte ein, in dem die Frauen in kleinen Schritten ihrer eigenen Realität neue Massstäbe zu setzen begannen und der die heutige aktive Präsenz der Frauen in der EZLN massgebend mitprägte.

 

PRÄGENDE EREIGNISSE – PRÄGENDE FRAUEN

 

Zwei fundamentale Aspekte haben die heutige Beteiligung der Frauen und den Einbezug ihrer Forderungen innerhalb der EZLN erheblich beeinflusst: die Kolonisation der Selva, und die veränderten Bedingungen in der Erwerbsarbeit.  Am Beispiel der chiapanekischen Region Altos kann man beides sichtbar machen. Die seit den 50er Jahren von der mexikanischen Regierung geförderte Kolonisation der Urwaldregion Selva Lacandona war eine Antwort auf die Landknappheit. Bis zu den 80er Jahren hatten sich über 150'000 MigrantInnen aus den Altos und der Zona Norte in der Selva niedergelassen. Es galt als selbstverständlich, dass die Frauen ihrem Ehemann folgten und die vertraute Umgebung und den Familienverbund zurückliessen. Sich an die äusserst schwierigen Bedingungen in der Selva anpassend, erlernten die Frauen neue Fähigkeiten und genossen Freiheiten, die ihnen vorher verschlossen blieben. Waren sie zuvor in ihren Heimatdörfern der strengen sozialen Überwachung ausgesetzt, so hatten in ihrer neuen Heimat - in der Menschen aus verschiedenen Gemeinden, mit verschiedenen Religionen und Sprachen zusammengefunden hatten - viele traditionelle soziale Regeln mit der Zeit eine neue Bedeutung erhalten. Eine grosse Sprachenvielfalt kennzeichnete die neuen Dörfer. Die Frauen, die biethnische Ehen eingingen, lernten zusätzlich das Idiom ihres Mannes. Diese Tatsache eröffnete ihnen die Möglichkeit, aus ihrer sprachlichen Isolation auszubrechen und ereicherte ihr Alltagsleben. Diejenigen die nicht emigrierten, mussten sich neue Einkommensquellen suchen. Die Landknappheit aber auch der niedrige Ernteertrag des steinigen, bergigen Ackerlandes zwangen nicht selten zu Landbesetzungen oder Arbeitsmigration. Temporäre Arbeitsmigration wurde dort zwar seit jeher praktiziert; doch die damals staatlich unterstützte Erdöl-, Transport- und Tourismusindustrie schuf neue Arbeitsmöglichkeiten und förderte in jener Zeit die Arbeitsmigration aus den Altos in ungewöhnlichem Mass. Die Männer blieben nun anders als zuvor für lange Perioden fern von ihren Dörfern. Dies ermöglichte es den Frauen, Verantwortung im Dorf zu übernehmen, was ihr Selbstvertrauen stärkte und ihnen das Erlernen neuer Fertigkeiten ermöglichte. Die fortwährende Not zwang aber auch viele Frauen dazu, sich neue Erwerbszweige zu sichern: auf Märkten in grösseren Nachbardörfern verkauften sie Speisen oder Kunsthandwerk oder arbeiteten in mestizischen Haushalten als Dienstmädchen. Das eigene Einkommen und die damit verbundene grössere finanzielle Unabhängigkeit, ermunterte viele Frauen, ihren Forderungen innerhalb der Familie mehr Nachdruck zu verleihen. Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass viele der Frauen, die sich alleine aus der Gemeinde herauswagten, durch Ausschluss von ihren Familien dafür bestraft wurden. Viele dieser Frauen, die durch die Migration in die Selva Vergleichsmöglichkeiten erhalten hatte, neue soziale Regeln mitprägten, die durch das Alleinsein in den Dörfern oder durch ihre Erwerbsarbeit neue Fertigkeiten erlernten, ein starkes Selbstbewusstsein entwickelten und eine grössere Unabhängigkeit kennen gelernt hatten, wurden später Teil der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee, der EZLN.

 

KIRCHE UND STAAT – EINE UNBEABSICHTIGTE AUFSTANDSFÖRDERUNG

 

Zahlreiche unterschiedliche Begebenheiten begünstigten in den vergangenen fünfzig Jahren die Organisation der indigenen Frauen in Chiapas. Neben den bereits erwähnten Aspekten spielten die Befreiungstheologie, aber auch staatliche Institutionen wie das INI (Instituto Nacional Indigenista) eine Schlüsselrolle. Trotz Verfolgung der Eigeninteressen mündete nicht zuletzt auch diese Unterstützung – mit Sicherheit unbeabsichtigt - in die Gründung der EZLN und in die starke Beteiligung der Frauen in der Befreiungsarmee. Schon in den 60er Jahren organisierten katholische Missionare Seminare zum Thema Menschenrechte. Jede Pastoralgruppe beinhaltete auch eine Frauengruppe. Gemeinsames Bibellesen, Lese- und Schreibunterricht (auf Spanisch und in der Muttersprache), Förderung der Menschenrechte, Schaffung einer Gesundheitsinfrastruktur, aber auch die Arbeit am eigenen Selbstwertgefühl waren Thema. Das INI sowie die Diözese unterstützten zudem die Gründung von Frauenkooperativen, in denen die Kunsthandwerke der Frauen hergestellt und verkauft wurden. Zahlreiche indigene Frauen waren zudem bereits Mitglieder in Bäuerinnen-Organisationen, welche grösstenteils von der PRI ins Leben gerufen und kontrolliert worden waren. Die meisten dieser Organisationen wurden zu einem späteren Zeitpunkt unabhängig.

 

Die indigenen Frauen haben seit den 50er Jahren begonnen, sich in Bäuerinnenorganisationen und Kunsthandwerk-Kooperativen zusammen zu schliessen. Was als einfache Mitgliedschaft in staatlich kontrollierten oder kirchlichen Gruppen begann, entwickelte sich zum Teil über die Jahre hinweg zur Selbstverwaltung von unabhängigen Frauenorganisationen. Die Ehemänner hatten die Teilnahme der Frauen toleriert; dies aufgrund des institutionellen Charakters der anfänglichen Organisationen und der Tatsache, dass die Mitgliedertreffen dieser Gruppen meist in der Gemeinde selbst stattfanden. Nach wenigen Jahren jedoch, sahen sie sich einem unumkehrbaren Prozess gegenübergestellt: ihre Frauen hatten einen eigenen, autonomen Weg eingeschlagen, der nicht mehr zu stoppen war.

 

FEMINISTISCHE VERSUS FEMININE FORDERUNGEN

 

Nebst Frauenkooperativen und Bäuerinnenorganisationen erlangten ab den 80er Jahren auch Frauenorganisationen in San Cristóbal immer grössere Aufmerksamkeit. Als Reaktion auf eine Gewaltwelle gegen Frauen waren neue Gruppen entstanden und bestehende hatten sich zusammengeschlossen. Es waren vorwiegend Mestizinnen und Weisse, die Mehrzahl von ihnen Akademikerinnen, die diese Gruppen formierten und die einen westlich geprägten feministischen Diskurs vertraten. 1989 entstand aufgrund einer erneuten Vergewaltigungswelle eine Annäherung zwischen den nichtreligiösen Frauengruppen und den Pastoralgruppen der Diözese, in denen die indigenen Frauen vorwiegend organisiert waren. Bald darauf zeigten die Spaltungsversuche der damaligen Regierung jedoch ihre Wirkung: die Regierung legalisierte völlig unerwartet die Abtreibung und behauptete fälschlicherweise, man sei damit auf eine dringende Forderung der Frauengruppen in San Cristóbal eingegangen. Damit wurde die erneute Distanzierung zwischen den religiös geprägten und den nichtreligiösen Frauengruppen erreicht. Vielleicht waren aber auch andere, unüberwindbare Differenzen zwischen den Frauenorganisationen ausschlaggebende Gründe für diesen Bruch: Eine Kritik, die Feministinnen heute noch den organisierten indigenen und damit auch EZLN Frauen entgegen bringen, dreht sich um die sogenannten „femininen“ und „feministischen“ Forderungen. Die indigenen Frauen würden vor allem „feminine“ Forderungen stellen: also solche, die in Beziehung zum praktischen Alltagsleben stehen. So würden sie den Zugang zu sauberem Wasser, eine stabile Behausung und eine medizinische Infrastruktur in den Vordergrund stellen. Dabei würden sie die „feministischen“ Forderungen zurückstellen: jene nach einer besseren Position der Frauen innerhalb der Gesellschaft, nach Aufhebung der ungleichen sozialen Beziehungen zwischen den Geschlechtern.

 

Der Lebensalltag der indigenen Frauen unterscheidet sich beträchtlich von dem der mestizischen, mehrheitlich in der Stadt lebenden Frauen. Dass die grundlegenden Bedürfnisse der indigenen Frauen nicht annähernd gedeckt sind, hat zwangsläufig eine andere Gewichtung ihrer Prioritäten zur Folge. Abgesehen davon hat sich gezeigt, dass diese Unterteilung in „feminine“ und „feministische“ Forderungen in der Realität nicht anwendbar ist. Praktische Forderungen und Ziele können, wie folgendes Beispiel zeigt, sehr wohl auch sozio-kulturelle Auswirkungen haben.

 

Nach dem Massaker von Acteal erhöhte die mexikanische Regierung das Soldatenkontingent in Chiapas. Es war kein Zufall, dass in Acteal so viele Frauen massakriert wurden. Die Botschaft war klar: die Bewegung sollte an ihrem wundesten Punkt getroffen werden: die Mütter, die Kinder und damit die Grundpfeiler. Doch statt zu lähmen, stärkte dieses Ereignis den Widerstand – besonders den der Frauen. Mit der zunehmenden Militarisierung begannen die Frauen ihre Gemeinden vor den militärischen Angriffen zu schützen. Was in Acteal begann, sprach sich schnell herum und in Dutzenden von Gemeinden nahmen die Frauen diese Aufgabe in Angriff. Viele Männer flohen in die Berge, aus Angst in den Militärdienst eingezogen zu werden. Die Frauen blieben in den Gemeinden und bildeten menschliche Schutzschilder. Tag und Nacht hielten sie Wache und konnten so in vielen Dörfern das Eindringen des Militärs verhindern. Die Organisation dieser menschlichen Durchlasssperren war von Anfang an in den Händen der Frauen gewesen. Ihr Widerstand scheint hier einem praktischen oder „femininen“ Ziel zu folgen: das Militär soll nicht in die Gemeinde eindringen können und ihre psychische und physische Integrität sowie ihre Existenz bedrohen. Obwohl sie sich als Mütter und Ehefrauen mobilisierten, um ihr Heim und ihre Familien zu schützen, stellten sie die bestehenden Regeln in den Geschlechterbeziehungen auf den Kopf. Sie übernahmen die Rolle des Mannes, der als traditioneller Beschützer der Familie und der Gemeinde diese Aufgabe normalerweise wahrnehmen würde. Dass der Prozess der Gleichberechtigung ein elend langer ist, haben wir hier im Westen akzeptieren müssen. Für die Frauen in Chiapas hat dieser Prozess eben erst begonnen. Und sie tun viel um ihn zu beschleunigen.

 

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